Digitale Begleitpublikation

Gross

Dinge Deutungen Dimensionen

Ethnologie der Grösse –
Ein erstes Vermessen

Beatrice Voirol

Gross ist unmittelbar. Gross ist unausweichlich. Gross ist unübersehbar. Beim Versuch Grosses zu definieren wird aber klar, dass trotz seiner Eindrücklichkeit wenig bekannt ist über das Grosse. Sein Spektrum setzt an einem undefinierten Punkt ein und reicht bis in superlative Sphären wie «Ewigkeit» und «Unendlichkeit».

 

In dieser Unklarheit über das Grosse ist die Relation von grosser Wichtigkeit. «Grösser als» gilt als Indikator und Motor im Wettbewerb um Grösse. Physikalische Grössen werden durch Masseinheiten verglichen. Das Grosse wird von den Natur­wissen­schaften dominiert, die Höhen, Breiten und Längen vermessen. Wie verhält es sich aber mit der Kultur des Grossen? Vier Dinge – das Teleskop, der Meter, der Container und das Brustimplantat – nehme ich unter die Lupe, um sie hinsichtlich ihrer Grösse zu sezieren. In diesen Zoom-Ins nähere ich mich der Grösse als kulturell relevantem Element: Das Beispiel des Teleskops zeigt auf, wie unterschiedlich der Kosmos rezipiert werden kann. Was passiert, wenn der Umgang mit dem ganz Grossen völlig verschieden ist? Um ein adäquates Vermessen von Grossem zu garantieren, braucht es einheitliche Messeinheiten, wie das Beispiel des Meters zeigt. Zu Gunsten der Einheitlichkeit wurde eine Vielzahl von anderen Massen aufgegeben. Dass Grösse eng verknüpft ist mit Wachstum, ist das Thema beim Container. Wo führt das Immer-Grösser-Werden-Wollen hin? Was wird gemessen in diesem ökonomischen Wettbewerb? Auch der eigene Körper ist vor Vermessung nicht gefeit. Das Implantat verweist auf bestimmte Motive für das Modifizieren von Körperteilen. Wann ist eine Vergrösserung erwünscht und warum?

Das Teleskop

Dem anfänglich fast kindlichen Staunen über das Grosse weicht schnell ein Verstehen-Wollen, ein Überprüfen der Wahrnehmung: Durch das Teleskop blicken wir in den Nachthimmel und können gar nicht so genau fassen, was sich uns offen­bart. Mit den eigenen Augen wollen wir das Unfassbare ermessen. Weil uns dies nur unzureichend gelingt, erschaffen wir unsere eigene Kosmologie, basierend auf wissenschaftlichen Erkenntnissen. Zahlen kommt in dieser Kosmo­logie eine massgebende Bedeutung zu, obwohl wir eine höchst ambivalente und ungenaue Beziehung insbesondere zu ganz grossen Zahlen haben. Sofern es nicht um das Göttliche geht, wo Glaube unabdingbar ist, dominiert in unseren Breitengraden der wissenschaftliche Beweis, wenn es um das Grosse geht.

 

Ein gigantisches Teleskop ist momentan Grund eines Streits auf Hawaii. Auf dem 4200 Meter hohen Mauna Kea soll ein neues und noch grösseres Teleskop errichtet werden als diejenigen, die bereits da sind. Schon lange finden auf dem Mauna Kea Himmels­beob­achtungen statt, sind doch die Bedingungen dafür optimal. Verschiedene Universitäten und Institutionen betreiben in einem wissenschaftlichen Grossprojekt zusammen das Mauna-Kea-Observatorium. Nun soll ein weiteres Teleskop mit einem 30-Meter-Spiegel errichtet werden. Die Vorteile des «Thirty Meter Telescope» überzeugen: Das TMT würde durch seinen immensen Spiegel knapp zehnmal so viel Licht einfangen wie die anderen Teleskope auf dem Mauna Kea und seine Lichtempfindlichkeit wäre 200-mal so hoch. Man geht davon aus, dass man mit dem TMT die Atmosphäre erdähnlicher Planeten, die sich in der Umgebung ferner Sterne befinden, auf Spuren fremden Lebens untersuchen könnte.1

Das Subaru Teleskop und W. M. Keck Observatorium bei Sonnenaufgang auf dem Mauna Kea

Diese Argumente sind für die Gegner des Grossprojekts wenig relevant. Den Hawaiianern ist ihr Mauna Kea heilig, er ist ein zentraler Ort ihrer Geschichte, denn in ihrer Kosmologie stellt der Mauna Kea als Nabelschnur die Verbindung zwischen Himmel und Erde her. Er ist der Bergaltar von Wākea, der himmlischen Gründerfigur der Hawaiianer.2 Deshalb darf der Berg nicht noch weiter entweiht werden. Seit Oktober 2014 kam es deshalb zu Protesten und Strassen­blockaden.3 Auf Grund dieser Widerstände ruhen im Moment die Arbeiten auf dem Mauna Kea und es ist ungewiss, wie es weitergehen wird in dieser Auseinander­setzung zwischen der westlichen Wissenschaftskosmologie und der Welt indigener Kosmologien, in der beide Seiten um Anerkennung ihrer Perzeption kämpfen.

 

Kosmologische Vorstellungen variieren – Dämonen- und Götterwelten treten in Konkurrenz mit der Welt der Menschen. Im aktuellen westlichen Weltbild, das stark von naturwissenschaftlichen Erkenntnissen geprägt ist, sind es nicht Götter und Dämonen, die im Universum um die Herrschaft ringen, sondern Einschlagwahrscheinlichkeiten von Asteroiden, Grösse und Masse schwarzer Löcher oder die Distanz zur entferntesten Galaxie unseres Universums. Vor allem durch die Entwicklung von Messinstrumenten wird unser Sonnensystem in Entfernung und Ausdehnung beschrieben. Als Ausgangs­punkt für diese Entwicklung kann Galileo Galileis selbstgebasteltes Teleskop gelten. Als er 1610 den Nachthimmel über Padua betrachtete, entdeckte er durch sein Teleskop die Jupiter-Monde und beobachtete diese in der Folge jede Nacht. Die daraus resultierenden Erkenntnisse Galileos widerlegten nicht nur das geozentrische Weltbild, sondern stellten auch die Basis dar zur späteren Berechnung der Licht­geschwindig­keit. Das All rückte ein Stück näher und seine Geheimnisse schienen etwas weniger rätselhaft.

 

Egal also, ob wir es Aleph א oder Äon nennen, das ganz Grosse – die Unendlichkeit und die Ewigkeit – beschäftigen die Menschen. Denn das Übermass ist eng verknüpft mit ontologischen Fragestellungen: Wie verstehen wir die Welt und in ihr unsere Existenz? Unsere Sinne sind nicht für das Extreme geschaffen. Grösse steht in enger Verbindung mit dem Sehen. Was ist das Grösste, was wir noch mit unseren Augen erkennen können? Unsere visuelle Wahrnehmung ist beschränkt. Deutlich zeigt sich dies bei Zahlen. Die Grenzen der Subitisation, des Erkennens einer Summe auf einen Blick, werden leicht überschritten und wir erfahren eine Zahlentaubheit.4 Die Ent­wicklung unseres Gehirns orientiert sich an den Grössenordnungen von Ausdehnung und Geschwindigkeit, mit denen unser Körper zu tun hat. Wir fühlen uns wohl in der Mittelwelt zwischen dem ganz Grossen und dem sehr Kleinen.5

 

Wie begegnen wir also den Irritationen des ganz Grossen? Die Antworten sind vielfältig. Die westliche, nach Wissenschaft strebende Kultur nimmt Mass. Das Grosse wird epistemo­logisch zugänglich gemacht. Zahlen kommt dabei eine wichtige Rolle zu, denn sie ent­sprechen unserer Vorstellung von Genauigkeit. Die natur­wissen­schaftliche Tradition des Zählens, Vermessens und Wägens dominiert. Die 3-D-Struktur unseres Universums nehmen wir als gegeben hin. Dennoch gibt es Wissen­schaftler, die das Universum für eine zweidimensionale Projektion kleiner, subatomarer Informationsbytes halten. Die Existenz eines gigantischen Hologramms würde die Widersprüche zwischen Einsteins Relativitätstheorie und der Quantenmechanik auflösen können, würde allerdings auch bedeuten, dass die uns vertraute Welt in Wahrheit völlig anders ist, als wir sie wahrnehmen.6 Denn das Erleben des Universums in seiner Dreidimensionalität würde sich als Illusion entpuppen beziehungsweise nur als eine Möglichkeit, die Realität zu betrachten.

 

Und geht es um die Grösse Gottes, wird die Angelegenheit nicht einfacher. Unerforschlich, erhaben, nicht messbar auf der Skala der Logik. In der Bibel ist eine Vielzahl von Versen zu finden, die Gott «gross» nennen. «Egal, wie gross wir uns Gott vorstellen, wir haben seine Grösse noch nicht völlig erfasst».7

 

Betrachtet man die Erde vom Universum aus, ist sie in Relation dazu ziemlich klein und unbedeutend. Aber auch sie entkam dem Vermessungs-Wahn der Wissenschaft nicht.

Der Meter

In einer uns wesentlich einfacher zu begreifenden Skala liegt der Meter. Wie wohl keine andere Mass­einheit begleitet uns der Meter durch das Leben. Während die Ausdehnung des Universums unsere Vorstellung übersteigt, haben wir ein Gefühl für den Meter entwickelt. Und dies, obwohl der Meter sich eben nicht an unseren Körpermassen orientiert. Dass wir trotzdem die Länge des Meters mittlerweile verinnerlicht haben, liegt an der Normierung. Der Meter ist das Mass, das scheinbar für alles und alle gilt: Entfernungen in Kilometer, Wohnflächen in Quadratmetern und Abstände in Zentimetern. Das Handhaben dieser Grösse ist standardisiert und lässt wenig Spiel­raum im Umgang damit.

 

Bei der «Vermessung der Welt» spielte der Meter eine entscheidende Rolle. In der Aneignung der Erde durch Vermessung waren Standardi­sie­rungen, wie die Einführung des Meters, von grundlegender Bedeutung. In diesem Bestreben – und zuweilen auch Widerstreben – wurde jedem Punkt der Erde durch seine geografische Länge und Breite sein Platz auf der Landkarte zugewiesen. Im Laufe der Zeit gab es verschiedene Definitionen des Meters. Ab 1799 orientierte sich der Meter an der Länge des Urmeters – ein Prototyp aus Platin, aufbewahrt im französischen Nationalarchiv. Dessen Länge entsprach nach den damals durchgeführten Messungen dem zehnmillionsten Teil der Entfernung vom Nordpol zum Äquator. Seit 1983 wird ein Meter definiert als die Länge der Strecke, die das Licht im Vakuum während der Dauer von 1/299 792 458 Sekunde zurücklegt. Der Meter ist die Basiseinheit der Länge im Internationalen Einheitssystem.8

Äquator, 2009

Bereits vor 40'000-50'000 Jahren wurde das Messen im menschlichen Miteinander zum Thema. Der Austausch von Dingen wie Speeren oder Äxten hat zu gemeinsamen Vor­stellungen von Gleichheit und Übereinstimmung geführt.9 Dieses gegenseitige Verständnis von Ordnung hat auch in der Bibel ihren Niederschlag gefunden: «Ihr sollt nicht unrecht handeln im Gericht, mit der Elle, mit Gewicht, mit Mass. Rechte Waage, rechtes Gewicht, rechter Scheffel und rechtes Mass sollen bei euch sein […] dass ihr alle meine Satzungen und alle meine Rechte haltet und tut».10

 

Die vor-metrischen Masseinheiten orientierten sich in der Regel am menschlichen Körper. Eine Elle umfasst den Abstand zwischen Ellbogen und Mittelfinger­spitze und eine Meile wurde von den Römern als mille passus angegeben, wobei sie vom Schritt des rechten Fusses zum nächsten Schritt des rechten Fusses gemessen wurde, also eigentlich zwei Schritte umfasste. Diese Einheit war wichtig für den Marsch mit der Armee. Das griechische Mass «Stadion» orientiert sich an der Distanz des antiken olympischen Wettlaufs. Acre, ein Acker bezieht sich auf die Arbeit eines Tages, vom Sonnenaufgang bis zum Sonnen­untergang, das Pfund, pound, auf eine Hand voll Erde und der cup als ein gutes Mass für ein Getränk.11 Das grundlegende Problem bei diesen frühen Bemühungen des Vermessens war die Ungenauigkeit. Beispielsweise war die Elle ein zwar weit verbreitetes Mass, nur gab es verschiedene Ellen. Die alten Hebräer und Ägypter massen die Elle in sieben Handbreit zu je vier Fingerbreiten. Aber: Die ägyptische Elle betrug dabei 52 cm und die hebräische 45 cm.12 Deshalb wurden schon früh Standardisierungen eingeführt. Eine konsequente Zentra­li­sierung mit einer einheitlichen Rechtsprechung und einem standardisierten Verwal­tungs­system wurde im Jahr 221 v. Chr. durch den chinesischen Kaiser Qin Shihuangdi eingeführt. Damit beabsichtigte er sieben verfeindete Regionen seines Reichs zu einen; die Einführung genormter Masse und Gewichte war dabei wesentlich. Es gab einheitliche Münzen, Standardmasse für den Spurabstand von Wagen, um das Passieren von Torbögen und Brücken ohne Probleme zu ermöglichen, und damit einhergehend eine enorme Erleichterung von Handel und Kommunikation.13 Auch in Europa kannte man die Probleme der Uneinheitlichkeit: Unter dem Ancien Régime gab es schätzungsweise 800 unterschiedliche Massbezeichnungen, die für 250'000 Masse standen. Erst im Zuge der französischen Revolution fand eine ähnlich flächendeckende Standardisierung statt wie unter Kaiser Qin Shihuangdi – mit der Einführung des metrischen Systems. Nach der französischen Revolution erfolgte eine umfassende Reform der französischen Institutionen, die Freiheit, Brüderlichkeit und Gleichheit zwischen allen Bewohnern Frankreichs schaffen sollte. Dialekte und Regionalsprachen wurden verboten. 1790 sollte ein neues Masssystem festgelegt werden. Gewichte und Längenmasse wurden nun klar definiert. Der Meter ersetzte willkürliche Definitionen. Denn Längen, die am menschlichen Körper festgemacht wurden, waren nicht eindeutig. Wenn die Längeneinheiten mit Bezug auf die Daumenbreite oder die Fusslänge z.B. des Königs definiert waren, bestand so gut wie keine Chance, dies zu überprüfen. So war es keine besonders grosse Hilfe, wenn der inch oder foot – ursprünglich die Breite irgendeines Daumens oder Fusses – durch die Breite oder Länge eines königlichen Daumens oder Fusses ersetzt wurde.15

 

Heute misst man Entfernungen via Satellit per GPS oder man lässt die entsprechende App die eigenen Schritte zählen, früher war die Einschätzung von Distanzen weitaus schwieriger. Erst ab dem 17. Jahrhundert konnte man durch die Gründung von Sternwarten Positionsbestimmungen vornehmen, die nach und nach miteinander verbunden und so verdichtet wurden. Erst nach Einführung des Meters wurde es möglich, diese Daten massstabsgetreu in Landkarten wiederzugeben. Dabei war die Bestimmung des Nullmeridians von besonderer politischer Brisanz. Die Breitengrade waren längst definiert, aber die fehlende Festlegung des Nullmeridians, als Bezug für alle Längengrade, war insbesondere für die Seefahrt ein grosses Problem. Fast jedes Land hatte seinen eigenen Nullmeridian. Bei der Meridian-Konferenz 1884 in Washington DC kam es zum Showdown zwischen zwei wissenschaftlichen Grossprojekten: jenem um den Pariser Meridian und dem Greenwich-Meridian. Der Entscheid fiel zugunsten jenes Meridians aus, der durch das britisch-königliche Observatorium verläuft – Greenwich; dieser Ort ist seither Fixpunkt für Raum und Zeit.16

 

Der Meter ist in unserem Leben allgegenwärtig und hat die Art und Weise, wie wir die Welt wahrnehmen, massgeblich mitbeeinflusst. 1875 wurde die Meterkonvention ins Leben gerufen und bis heute sind praktisch alle industrialisierten Länder Vertragspartner. Der Meter verhilft zu Genauigkeit, Kontrolle und Gerechtigkeit beim Messen von Längen. Als Norm hat er unzählige lokale Messsysteme ersetzt.

Der Container

Obwohl der Container auch genormt ist und für ein bestimmtes Volumen in Kubikmeter steht, ist es bei ihm ein anderer Aspekt, der ins Auge sticht: seine Bedeutung für den internationalen Waren­verkehr. Durch die Globalisierung wurden gewohnte Massstäbe ausser Kraft gesetzt, nicht nur jene des Transports, sondern in allen Bereichen. Eine neue, viel grössere Skala trat an deren Stelle. Diese neue biggitude versetzt nicht nur Skalen, sondern impliziert auch Wachstum als grundlegenden Anspruch. Die Frage nach den Grenzen des Immer-Grösser-Werdens betrifft deshalb nicht nur das Wirtschaftswachstum, sondern ist allumfassend: Die Machtansprüche der Wettbewerbskultur scheinen grenzenlos zu sein.

 

Der genormte Container gilt als Symbol für die Kultur der Expansion, der Extreme und der Übersteigerung, die das 20. Jahrhundert prägte. Eingeführt in den 1950er-Jahren, setzte sich der Container schnell durch und wurde zur Grundlage der globalen Wirtschaft. Durch die genormte Form konnten Container schnell umgeschlagen und von verschiedenen Transportmitteln wie Schiff, Bahn oder LKW befördert werden. Weltweit sind 15 Millionen Container im Verkehr. Die Ausmasse eines 40-Fuss-Containers sind 12,192 m × 2,438 m × 2,591 m nach ISO-Norm 668. Vor der Erfindung des Containers war das Transportieren von Waren teuer – so teuer, dass es sich nicht lohnte, Waren auch nur durch das halbe Land zu spedieren, geschweige denn durch die halbe Welt. Erst der extreme Rückgang der Frachtkosten, bedingt durch die Einführung der Container eröffneten ganz neue Möglichkeiten des Warentransports.17

Container am Dreispitz, 2010

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurde die Weltwirtschaft durch die Industrialisierung befeuert und erfasste die ganze Welt. Der Welthandel wuchs von 1840 bis 1910 um das mehr als das Zehnfache an. Nicht nur das Freihandelsprinzip setzte sich durch, es kam auch zu Kommerzialisierungen von technischen Neuerungen, wie zum Beispiel der Dampfmaschine.18

 

Diese Entwicklung stellt die Basis der Globalisierung dar, eine Vernetzung von Wirt­schaft, Politik, Kultur, Umwelt und Kommunikation bisher ungeahnten Ausmasses. Die Containerisierung des Stückguttransports, der die Effizienz massiv erhöht hat, hat dazu beigetragen. Die im Zuge des anwachsenden Austauschs generierten Zahlen sind schwindel­erregend. Über die Medien fanden sie Eingang in unser Alltagsleben. Rein durch ihre Präsenz müssen die Menschen mit diesen immensen Zahlen jonglieren. In der Chiffrierung der Zahlen zeigt sich, dass die Globalisierung besessen scheint von Grösse.

 

Eine ungekannte Massstabslosigkeit ist nicht nur in wirtschaftlicher Hinsicht feststellbar, sondern das Grosse durchdringt auch die Kultur. Im 20. Jahrhundert etablierte sich eine ganz neue Skala des Lebens, alles wurde grösser. Der amerikanische way of life kann hier als beispielhaft gelten. Gigantismus scheint heute das Selbstbild der amerikanischen Nation auszudrücken.19 Die Expansion der Städte gehört genauso zur Kultur des Grossen wie Vergnügungsparks oder Kaufhäuser. Es geht bei dieser neuen Lebensskala aber auch um Körpergrösse und Körperfülle, die zunehmen. Damit stehen Essensportionen, Supermärkte, Autos und Häuser in enger Verbindung. Besonders anschaulich wird diese Kultur der biggitude auch in der Architektur. Die Wolkenkratzer – skyscraper – stehen paradigmatisch für das Grosse. Die ersten Wolkenkratzer wurden Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts erbaut. Nach einem Boom ebbte die Jagd nach baulichen Höhenrekorden wieder etwas ab, um ab den 1990er-Jahren wieder aufzuleben. Die kritische Wachstumsgrösse bei Gebäuden liegt aus technischer Sicht bei etwa 1,5 bis 2 km, sie wird massgeblich von Faktoren wie dem Gewicht des Konstruktionsmaterials beeinflusst. Momentan ist das höchste Bauwerk der Welt der Burj Khalifa in Dubai, aber der auf 2019 geplante Kingdom Tower in Dschidda, Saudi-Arabien soll 1 km hoch werden und damit 172 m grösser. Ein Rekord zieht den nächsten nach sich. Es ist dieser Superlativ, der den Wettstreit um Grösse befeuert. Denn rational lassen sich diese Projekte in der Regel nicht begründen. Die Architektur überträgt die Verrückung des allgemeinen Grössenmassstabs in die Konstruktion immer höher werdender Gebäude. Darin ist der Imperativ der Expansion und des Wachstums impliziert.20

 

Und welche Symbolik Wolkenkratzer haben, weiss man spätestens seit dem 11. September 2001 nach dem Angriff auf das World Trade Center. Die von den Attentätern als «Türme der westlichen Zivilisation, auf die sie so stolz ist»21 beschriebenen Zwillingstürme standen nicht nur für wirtschaftliche Potenz, sondern auch für die Kultur des Grossen mit seinem unkontrollierbaren Wachstum und Machtanspruch.

 

Das Brustimplantat

Um im globalen Wettbewerb bestehen zu können, muss auch das Äussere passen. Brustimplantate optimieren die Optik und fügen sich in eine medial verbreitete und aktuell vorherrschende Ästhetik ein. Das Modifizieren gewisser physischer Grössen, wie der Brust, wird in unserer kapitalistischen Markt­wirtschaft als ein return-on-investment betrachtet. Dieser Trend wird umso mehr begünstigt, als das Vermessen des Körpers uns spätestens ab unserer Geburt begleitet, wir damit aufwachsen und es als Teil des Lebens akzeptieren. Die Zahlen rund um den Körper sagen aber gar nicht so viel aus über unsere Gesundheit oder Schönheit, sie geben vielmehr Auskunft über vorherr­schende kulturelle und gesellschaftspolitische Haltungen.

 

«Big is good» – im Versuch, Mass anzulegen an der Brustgrösse, eröffnete die Schrift­stellerin Alex Kuczynski im Selbstversuch ein Profil auf einer amerikanischen Plattform, auf der Frauen mit dem Wunsch nach einer Brustvergrösserung auf Sponsoren –finanzierungswillige Männer – treffen. Obwohl Kuczynskis Profil keine entblösste Brust zeigte, kamen in drei Wochen dennoch 100 US-Dollar für ihre fiktiv geplante Operation zusammen. Ein Mann schrieb ihr, dass er ihre Brustvergrösserung unterstützen wollte, weil «gross gut sei».22

Mit Kochsalzlösung gefüllte Brustimplantate

Es war im Jahr 1963, als das erste Silikonimplantat auf den Markt gebracht wurde, und seither feierte es einen enormen Erfolg. Die Brustvergrösserung ist heute eine der gängigsten Operationen in der plastischen Chirurgie. Daran lässt sich ableiten, dass der heutige Schönheitsdiskurs eng mit den Machtstrukturen des Geldes verbunden ist.

 

Der Mensch wird schon als Kilo- und Zentimeterverhältnis geboren und sein Wachstum wird mit Hilfe der Perzentile überwacht. Davor wurde er als Embryo bereits pränatal vermessen. Das Vermessen zieht sich durch das ganze menschliche Leben. Dabei ist die Norm – und davon abgeleitet die Abweichung von der Norm – das Richtmass, Abweichungen sollen behandelt werden. Auch der BMI, der Body-Mass-Index, begleitet uns von der Kindheit bis ins hohe Alter und gibt uns Auskunft darüber, ob wir zu «dick», zu «dünn» oder gemäss dem Verhältnis unseres Gewichts zu unserer Grösse «richtig» sind.

 

Welche Effekte solche Abweichungen von der Norm haben können, zeigt sich beispiels­weise bei der Grösse von Jungen.23 Knaben von geringer Körpergrösse sind auf dem Pausenhof eher Diskriminierungen ausgesetzt als solche von «normaler» Gestalt. Selbst wenn sie in ihrem Wachstum später noch aufholen, sei es natürlich oder mit Hilfe von Wachstumshormonen, prägt sie diese Erfahrung für ihr ganzes Leben, denn «size matters».

 

Dieses Mass anlegen am Menschen hat eine lange Tradition und die Anfänge der Anthropometrie, der Vermessungslehre des menschlichen Körpers, sind überaus problematisch. Über das Messen und Zählen entstand im 19. Jahrhundert eine pseudowissenschaftliche Rassenanthropologie, die vor allem eines beabsichtigte: mit der Macht der gemessenen Zahlen vorhandene Vorurteile zu zementieren. Das immense Datenmaterial über Knochen und Schädel diente der Bestätigung anthropologischer Klassifikationen gemäss den damals vorherrschenden Vorstellungen.24

 

Gerade in der Begegnung mit dem Fremden wird die Absurdität dieses Vermessungswahns deutlich. Das Mass anlegen am Exotischen, von physiognomischen Merkmalen bis zu Menschenzoos, zeigt, wie irritierend solche Vermessungen waren. Das wird besonders deutlich in künstlerischen Reaktionen auf die Anthropometrie, wie der Film «Petit à Petit» von Jean Rouch zeigt, in dem der Besucher aus Nigeria Pariser Bürger zu Studienzwecken vermessen will.25 Oder eine aktuelle Arbeit der Künstlerin Yuki Kihara «A Study of a Samoan Savage», wo in grossformatigen Fotografien die Exotisierung und Erotisierung des männlichen Körpers des Samoaners angeprangert wird. Mittels anthropometrischen Messgeräten wird verdeutlicht, dass diese Körper im Diskurs des Sports zwar als kraftvoll wahrgenommen werden, aber auch als primitiv gelten.26 Ein Beispiel, das den Bogen zu unserer Gesellschaft wieder spannt, ist die Handknochenanalyse. Widersprüchlichen Angaben zum Alter vermeintlich minderjähriger Asylsuchender wird in der Schweiz mit Vermessung begegnet. Die linke Hand des jungen Asylsuchenden wird geröntgt und mittels Vergleichsbilder aus Fachbüchern abgeglichen. Scheint das Knochenwachstum abgeschlossen, gilt der Asylsuchende als erwachsen - mit den entsprechenden Konsequenzen für sein Verfahren. Obwohl sich Fachärzte gegen diese Methode zur Bestimmung des Alters wehren, wird sie angewandt.27

 

Bereits in der Antike wurde der menschliche Körper vermessen. Im Vordergrund standen da aber vor allem Proportionsverhältnisse der Natur. Schönheit und Symmetrie wurden in engem Zusammen­hang gesehen. Mit den heutigen Möglichkeiten der operativen Optimierung der Schönheit stehen gewisse Körperteile besonders im Fokus: Lippen, Wangen und Brüste werden vergrössert, Beine verlängert. Der Anspruch der Makellosigkeit erstreckt sich anscheinend auch in die hinterste Ecke des menschlichen Körpers. Zahlreiche Industrien bedienen die Nachfrage nach Körpermodifikationen. Neue ideale Proportionsverhältnisse werden zum aktuellen Massstab der Schönheit.28

GROSS

Die Zoom-Ins verweisen auf wichtige kulturelle Aspekte von Grösse, ein abschliessendes Vermessen von Grösse in ihrer Gänze erweist sich aber als schwierig. Das Handling von Grossem ist auch im übertragenen, ethnologischen Sinne sperrig.

 

Grosses ist erst einmal einfach gross, eine banale, jedoch auch hilfreiche Wahrnehmung. Gerade in Zeiten der Fragmentierung und Unordnung kann Grosses deshalb eine ungeheure Anziehungskraft ausüben. Wie ein Monolith steht das Grosse für das Maximum von Möglichkeiten. Und weil diese Möglichkeiten – meist technischer Art – immer kolossaler werden, erhöht sich die dimensionale Diskrepanz zum Mensch. Denn der Mensch ist beschränkt in seinem Wachstum und kann mit dieser Skalenverschiebung nicht in gleichem Masse Schritt halten. So wird das Grosse in gewissem Sinn immer grösser.

 

Grosses löst Emotionen aus, Emotionen wie Staunen, Ehrfurcht oder Angst. Diese Emotionen werden in einen kulturellen Kontext übersetzt. Womit und wie Grösse in Relation gesetzt wird, kann also sehr unter­schied­lich sein. Mit Hilfe von Zahlen erfasst die westliche Kultur Grösse. Diese numerische Übersetzung von Grösse weist darauf hin, dass der Wahrnehmungshorizont des Westens physiognomisch geprägt ist.

 

Dennoch ist Grösse relativ. Was als gross erachtet wird, hängt von der eigenen Position und von der Art des Vergleichs ab. Die kritische Grösse des Themas ist noch lange nicht erreicht, viele Aspekte von Gross warten darauf, unter die Lupe genommen zu werden.

 

 

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Bildquellen

Abbildung 1: The Subaru Telescope and W. M. Keck Observatory at sunset on Mauna Kea, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Subaru_and_Keck_telescopes_at_sunset.jpg?uselang=de#filelinks

Abbildung 2: Äquator, 2009, © Daniel Wyss

Abbildung 3: Container am Dreispitz, Fotografin: Kathrin Schulthess, © Christoph Merian Stiftung

Abbildung 4: Saline-filled breast implants, 
https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Saline-filled_breast_implants.jpeg