Digitale Begleitpublikation

Gross

Dinge Deutungen Dimensionen

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Dinge Deutungen Dimensionen

Digitale Begleitpublikation

Grosses – ethnologische
Annäherung an ein Phänomen

Anna Schmid

Messen und Vermessen durchdringen unser ganzes Leben. Grosses lässt sich ethnologisch aber keinesfalls über Masse oder Ausmasse allein analysieren. Um als ‹Gross› anerkannt zu sein, bedarf es weiterer Merkmale, die kulturell rückgebunden sein sollten – sei es an globale Vorstellungen wie etwa bei Hochhäusern mit ihrer symbolischen Kraft, an lokale Ausprägungen wie bei Tauschsystemen oder an Weltbilder spezifischer Gemeinschaften wie etwa religiöser Gruppierungen mit ihren sakralen Skulpturen. Zum Grossen gehört auch eine Relativierung, die in der Formel ‹grösser als› ausgedrückt werden kann; meistens ist damit der Mensch als Massstab, human scale, verbunden.

Mit der ethnologischen Betrachtung von Grösse und Grossem ist noch kein eigenständiges Forschungsfeld etabliert; vielmehr handelt es sich dabei um ein Querschnittsthema, das in allen ethnologischen Themenfeldern einen Stellenwert hat oder haben sollte. Mit der Ausstellung ‹GROSS – Dinge Deutungen Dimensionen› und der gleichnamigen Publikation unternehmen wir eine erste Annäherung, in der wir Streiflichter auf Grosses im ökonomischen, sozialen, politischen und religiösen Bereich werfen.

 

In der Publikation behandelt Beatrice Voirol in ihrem Beitrag «Ethnologie der Grösse – ein erstes Vermessen» exemplarisch vier Dinge – das Teleskop, das Metermass, den Container und das Brustimplantat. Angeleitet von der Prämisse, dass sowohl der Prozess des Vergrösserns als auch jener der Normierung kulturell verortet sind, stellt sie die wissenschaftliche der religiösen Kosmologie gegenüber und verhandelt Vorstellungen von Maximierung – sei es im Ökonomischen oder in der Schönheitsindustrie. Michael Hirschbichler verfolgt in «Totale Architektur: Opposition und Integration im Langhaus der Gogodala» in Papua-Neuguinea das ehrgeizige Projekt, die Sozialstruktur dieser Gruppe zu Besonderheiten der Architektur des Langhauses und seiner multiplen Nutzung in Verbindung zu setzen. Er interpretiert das Langhaus als «physische Materialisierung» und integrierendes Element der überlappenden Ordnungsschemata dieser Gruppe. Reinhard Wendler befasst sich mit dem Phänomen «Big Data und andere Giganten». Ausgehend von der Figur des Riesen in Sagen und Erzählungen bezeichnet er die ungeheure Datenmenge – eben das Phänomen big data – als «Halbgiganten, als ein Mischwesen, das zugleich unermesslich gross und überraschend klein ist». Klein deshalb, weil die Datenmasse noch längst nicht vermag, den Reichtum und die Fülle des Lebens zu erfassen; gross deshalb, weil Anwendung und Handhabung der Daten – dazu gehört wesentlich die Entwicklung von entsprechenden Programmen – zu einschneidenden Veränderungen des menschlichen Lebens führen wird. Zwischen diesen Essays sind Zeugnisse einer wahren Vermessungsmanie eingestreut. Beatrice Voirol, Daniel Wyss, Réka Mascher und Anna Karsko haben dazu Faktisches und Erstaunliches zusammengetragen. Das Spektrum reicht von Formeln zur Eruierung des Normalgewichts und Intelligenzquotienten über Grössenverhältnisse zwischen Mann und Frau bis hin zur Berechnung des Wertes eines Strassenverkehrsopfers in der Schweiz: 
2,94 Millionen CHF.

 

Trotz all der Messungen und Zahlen bedarf es weiterer Parameter für eine ‹Ethnologie der Grösse›. Dies soll an einem Beispiel deutlicher werden.

Die Gestalt des Riesen: Mythisches als Paradigma

Die hinduistische Gottheit Vishnu erscheint immer dann, wenn die Welt bedroht wird. Als Erhalter und Beschützer des Universums nimmt er verschiedene Gestalten an, um die Welt von Gesetzlosigkeit und Ungerechtigkeit zu befreien. In seiner fünften Inkarnation erschien Vishnu als Zwerg Vamana: Der Dämonenkönig Bali war zu mächtig geworden, er hatte die drei Welten – Himmel, Erde und Unterwelt – in seine Gewalt gebracht und die Götter aus dem Himmel vertrieben. Diese baten Vishnu um Hilfe, er willigte ein, liess sich als Zwerg gebären und von den Göttern ausbilden, um sich schliesslich als Brahmane zu Bali zu begeben. Der Dämonenkönig hiess ihn willkommen, fragte danach, was er für ihn tun könne und bot ihm viele wertvolle Geschenke an. Vishnu lehnte die Geschenke ab, er bat lediglich um so viel Land, wie er mit drei Schritten durchmessen könne. Bali willigte ein. Der Zwerg Vamana aber wurde riesengross – er begann zu wachsen, wuchs weiter und weiter, erfüllte das ganze Universum und erreichte eine Grösse jenseits aller Vorstellungen. Mit seinem ersten Schritt nahm er die Erde, mit dem zweiten den Rest des Universums ein und fragte Bali daraufhin: «Wohin soll ich nun meinen dritten Schritt setzen? Wenn Du dein Versprechen nicht einlösen kannst, solltest Du in die Unterwelt gehen.» Schliesslich erkannte Bali, dass es Vishnu war, und bot ihm seinen Kopf an: Vishnu setzte den dritten Schritt auf Balis Haupt und verbannte ihn damit in die Unterwelt.

 

In dieser Erzählung wird Grösse als transformative Kraft apostrophiert: Vishnus Verwandlung vom Zwerg zum Riesen vermag die Welt zu retten; seine Grösse ist synonym mit Gerechtigkeit und Schaffenskraft. Sie ermöglicht Erkenntnis und daraus abgeleitet Demut und Einsicht bei Bali, der zunächst nur als Symbolfigur für Machtmissbrauch steht. Schliesslich lehrt die Verwandlung, dass Relationen – Grössenverhältnisse genauso wie Machtverhältnisse – sowie Welt- und Wertvorstellungen nicht als gegeben hinzunehmen, sondern immer wieder neu zu überdenken und zu verhandeln sind. All diese Transformationen werden durch das Bild des Riesen wirkmächtig visualisiert und ihre Bedeutung dadurch akzentuiert.

Schattenspielfigur des Kumbhakarna

Die Kraft des Riesen wird auch in der Figur des Kumbhakarna beschworen. Dieser Riese ist der jüngere Bruder des Dämonenkönigs Ravana, einer zentralen Figur des indischen Heldenepos Ramayana. In Kumbhakarna vereinigen sich zwei widersprüchliche Dimensionen: auf der einen Seite eine ‹furchterregende und unwiderstehliche› Kraft des Riesen, die kaum bezwungen werden kann, auf der anderen ist er nicht eindeutig gut oder böse. Zwar kämpfte er auf der Seite des Dämonenkönigs gegen den göttlichen Rama. Allerdings zweifelte Kumbhakarna an den Motiven seines Bruders. Er warf Ravana vor, dass er handle, ohne sich mit seinen Brüdern zu beraten, sie deswegen für die Konsequenzen seiner Handlungen verantwortlich seien, es aber dem jüngeren Bruder nicht zustehe, den älteren im Stich zu lassen, wenn die Konsequenz Kampf bedeute. Also setzte Kumbhakarna seine Kraft für seinen älteren Bruder im Kampf gegen Rama ein; ihn schliesslich bezwang und tötete Rama den Riesen.

 

Während Vishnus Grösse und Macht positiv konnotiert ist, befindet sich Kumbhakarna in einem Zwiespalt. Er muss entscheiden, für welchen gesellschaftlich anerkannten Wert er seine Grösse einsetzt: für die Pflicht, die das verwandtschaftliche Verhältnis und der damit verbundene Machterhalt fordert, oder für Gerechtigkeit.

In beiden Erzählungen werden Fragen nach dem Verhältnis zwischen Grossem einerseits und ethischem Handeln, Legitimität der Ordnungsschemata, Status, Begehren und Möglichkeiten des Erkennens andererseits gestellt. In der Ausstellung ist der Rahmen noch weiter gesteckt. Sie behandelt in vierzehn Stationen auch die Beziehung von – tatsächlich oder metaphorisch – Grossem zu Arbeitsteilung, Jenseitsvorstellungen, verwendeten Materialien oder Techniken. Die Kuratorin Beatrice Voirol unternahm das schwierige Unterfangen, Grosses zu zeigen. Schwierig deshalb, weil die Architektur des Museums und vor allem die Ausmasse der Räume dem Grossen zuweilen enge Grenzen setzen. Die Logistik des Objekttransports von einem Ort zum anderen und ihre Platzierung im Museum waren eine Herausforderung, die wir trotz dieser Grenzen bewältigen konnten. Der Film ‹Transport der Grossobjekte› legt davon beredtes Zeugnis ab.

Dank!

Wenn Grosses entsteht, sind ganz selbstverständlich viele beteiligt. Ihnen allen danke ich herzlich dafür, dass sie sich auf das Thema, seine Umsetzung in Ausstellung und Publikation sowie die damit verbundenen Wagnisse eingelassen haben. Es versteht sich nahezu von selbst, dass mit Grossem andere Unwägbarkeiten verbunden sind, als jene, mit denen wir in der alltäglichen musealen Praxis konfrontiert sind. Ich danke dem gesamten Team unseres Hauses für diese grossartige Leistung. Die Kuratorin, Frau Beatrice Voirol, hat mutig und professionell dieses Thema für ihre erste Ausstellung im MKB gewählt, und dies, obwohl es in der Ethnologie kaum etabliert ist. Dafür gebührt ihr ganz besonderer Dank!

 

Wir werden mehr als drei Schritte brauchen, um das Universum zu durchmessen. Auch haben wir uns nicht von Zwergen zu Riesen gewandelt. Aber innerhalb der menschlichen Skala werden wir die Höhen und Weiten von Grossem weiter ausloten. Das Thema bietet viele, für alle relevante Facetten.